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Die «Zürcher Schule» oder Innenansichten eines Psychounternehmens
Anfangs der fünfziger Jahre gründete der österreichische Autodidakt und Psychologe Friedrich Liebling in Zürich-Wiedikon einen lockeren Gesprächskreis. Man traf sich in Hinterzimmern von Beizen, Teilnehmer konnte jeder werden. Es wurde über antiautoritäre Erziehung diskutiert, das Scheitern der russischen Revolution, die verhängnisvollen Auswirkungen der Religion, den fatalen Glauben an die Charakter-Vererbung und die vermeintliche Bösartigkeit der menschlichen Natur. Liebling berief sich auf die Lehre des Psychologen Alfred Adler und vertrat einen philosophischen Anarchismus, der sich an Max Stirner und Peter Kropotkin orientierte.
Die Treffen in den Wiediker Beizen, von frühen Spöttern auch «Neurosengärtli» genannt, waren vom Hauch des Umstürzlerischen und Subversiven umweht, was noch verstärkt wurde durch die Tatsache, dass niemand Genaueres über die Herkunft des charismatischen, damals rund Sechzigjährigen wusste. Erst nach seinem Tod fand man heraus, dass er einer einfachen jüdischen Familie aus Galizien in der heutigen Ukraine entstammte und dass er nie eine akademische Ausbildung absolviert hatte. Später hatte er in Wien gelebt und als «Inkassant», «Gemischtwarengrosshändler» gearbeitet, und war im letzten Moment mit seiner Frau und seinen zwei Kindern über die grüne Grenze in die Schweiz geflüchtet, nachdem Hitlers Armee unter dem Jubel der Mehrheit der Österreicher in Wien einmarschiert war. Der zurückbleibende Teil seiner Familie, darunter auch seine Mutter, sein Bruder und eine Schwester, wurde in den Gasöfen der deutschen Nazis ausgelöscht.
Als Liebling 1982 hochbetagt in Zürich starb, entbrannte ein erbitterter Kampf um seine Nachfolge. Aus dem Diskussionszirkel war inzwischen ein stattliches Psychounternehmen geworden, mit Liegenschaften am noblen Zürichberg und Ablegern in Berlin, Köln, Wien et al. Bis zu 4000 Teilnehmer nahmen dessen umfassendes Angebot in Anspruch, das neben Einzel-, Paar-, Grossgruppentherapie auch Kinderferien, Pflegefamilien, Kindergarten, Lernnachhilfe, Privatschule, eigenen Zeitschriften- und Bücherverlag umfasste, und vor allem auch das wohlige Gefühl, einer auserwählten Gemeinschaft anzugehören.
Zwischen «weltanschaulicher Aufklärung», das heisst ideologischer Indoktrinierung, und Therapie wurde nicht unterschieden, ebenso wie nicht genau definiert war, wer Therapeut und wer Patient war. Die «Lieblinge» sahen sich als Bewegung, als Vorhut einer besseren, aggressionsfreien, geläuterten Welt. Liebling hatte seine wachsende Therapiefamilie irgendwann leicht grössenwahnsinnig «Zürcher Schule für Psychotherapie» getauft, und die geschmeichelten «Lieblinge» übersahen in ihrer utopischen Exaltiertheit das Offensichtliche: Die Gruppe stolperte in sämtliche Schlangengruben, welche die psychologischen Heilsverfahren bereithalten. Als da sind: Abhängigkeit vom Heiler, Endlostherapie, Gehirnwäsche, Bauchnabelfixiertheit, Infantilisierung. Die Gruppe redete wie der von ihr als säkularer Jesus vergötterte Liebling, imitierte seine Gestik, suchte wie ein verirrter Hundewelpe seine Nähe. Aussenstehende sahen es auf den ersten Blick, nur die «Lieblinge» bemerkten es nicht mehr: Die «Zürcher Schule für Psychotherapie» war eine Sekte.
Sieger im bösartigen Machtkampf um das materielle und geistige Erbe des kleinen Seelen-Imperiums wurde Annemarie Buchholz-Kaiser, eine Thurgauerin mit u. a. einem Lizentiat in Geschichte über den französischen Anarchisten Pierre Joseph Proudhon («Eigentum ist Diebstahl»), eine vorsichtige, aber strategisch nicht unbegabte und vor allem treue Langzeit-Anhängerin des Meisters aus Österreich. Sie vollbrachte Erstaunliches. Sie verwandelte den links-anarchistisch-freidenkerischen Diskurs der Gruppe in einen konservativ-christlichen. Wer sich dagegen sperrte, wurde ausgestossen und charakterlich verleumdet. Die meisten Anhänger machten die scharfe Rechtsumkehrt-Volte mit. Die existenzielle Angst vor dem Verlust der Gruppe war viel stärker als jede rationale Überlegung und Vernunft.
Die neue weltanschauliche Ausrichtung drückte sich in einem neuen Namen aus. Anstatt «Zürcher Schule» nannte sich die Gruppe fortan «Verein zur Förderung der psychologischen Menschenkenntnis», kurz VPM. Gleichzeitig zur inneren Konsolidierung lancierte der VPM eine Vielzahl Initiativen auf gesellschaftspolitischer Ebene. Vereins-Ärzte gründeten Aids-Aufklärungs-Organisationen, Lehrer und Pädagogen pressure Groups in Schulen und Heimen, Studenten Vereine und Publikationen an Unis. Man suchte offensiv den Anschluss an Parteien und Persönlichkeiten aus dem äusseren rechten Spektrum. Und vor allem publizierte man Unmengen an Leserbriefen, Artikel, Zeitungen, Manifesten, Büchern. Auffallend war der grotesk alarmistische Stil.
Die Bildungseinrichtungen, die Politik, die Kultur, warnten die VPM-Autoren düster, seien unterwandert von Linksextremen, Drogensüchtigen, Anarchisten, Schwulen und anderen Perversen. Die Aussenwelt war schon unter Liebling ein gefährlicher Ort, aber die neue Gruppenphilosophie ersetzte die altbackenen Gegner Staat, Tradition, Kirche durch viel gefährlichere, invasivere, heimtückischere, von blossem Auge nicht wahrnehmbaren Feinde wie AIDS-Viren, Bakterien, Suchtstoffe. VPM-Lehrer und -Ärzte fielen unangenehm auf durch zwanghafte Hygiene-Massnahmen und rechthaberische Arroganz gegenüber andersdenkenden Kollegen. Von der Anarchie waren sie auf die Virologie gekommen. Die Gruppe taumelte zwischen Verfolgungswahn, Hypochondrie und mühsam beherrschter Aggressivität.
In den Achtzigern wurde der VPM ein Medienthema. Die Konflikte mit verbissenen «Menschenkennern» hatten sich gehäuft, deren Benehmen wurde zeitweise Stadtgespräch. «Wird Zürich von den Lieblingen unterwandert?», raunte der Tagesanzeiger. Auf Kritik wiederum reagierte der VPM mit wütenden Beschuldigungen, Charakterbesudelungen des Kritikers und einer Steigerung der verschwörungstheoretischen Fantasien. Buchholz-Kaiser verliess nur noch mit Bodyguards ihr Haus. Doch auch die Dienste einer renommierten PR-Agentur halfen nicht, Ruhe einkehren zu lassen.
Der VPM versuchte es mit juristischer Kriegsführung und reichte Hunderte von Klagen wegen Verleumdung, Ehrverletzung etc. ein, in der Regel ohne Erfolg. Auch das 1991 erschienene Buch «Lieblings-Geschichten. Innenansichten eines Psycho-Unternehmens» von Eugen Sorg sollte verboten werden. Die Klage wurde begleitet von ganzseitigen Zeitungs-Inseraten, in denen Sorg vom VPM beschuldigt wurde, «Rufmord» zu betreiben, «Existenzen zu vernichten» und «Menschen in den Abgrund zu stürzen». Hunderte von Anhängern unterstützten mit Namen und akademischen Titeln die dramatische Botschaft, die klang als wären die Mongolen in die Schweiz einmarschiert. Der Autor Sorg wurde beschattet und sein Briefkasten regelmässig gefilzt. Es wurde in seine Wohnung eingebrochen und private Dokumente wurden gestohlen. Über all diese Geschehnisse wunderte sich der ahnungslose Zeitungs-, TV- und Radio-Konsument sehr, und mancher, neugierig geworden, kaufte sich das Buch. «Lieblings-Geschichten» wurde ein Bestseller.
Ganz im Gegenteil zum Gegen-Buch «Der VPM. Was er wirklich ist», das der Verein mit einem Kraftakt bald darauf präsentierte. Der Wälzer von fast 700 Seiten bestand zur einen Hälfte aus nordkoreanischen Jubelchören auf «die grosse Pädagogin Dr. Buchholz-Kaiser», zur anderen Hälfte aus hemmungslosen, persönlichen Diffamierungen der vielen Kritiker. Das Werk wurde umgehend verboten und gelangte nie auf eine Buchladentheke. Die wenigen, die es zu lesen bekamen – Journalisten, Bildungsinstitutionen, Richter, Politiker -, erkannten leicht, dass hier heillos verrannte Sektierer den Griffel geführt hatten. Die «Lieblings-Geschichten» von Sorg dagegen mussten nach einem vier Jahre dauernden Rechtsstreit kein Wort zurücknehmen. Die Vernunft hatte gesiegt.
In den Nullerjahren wurde es ruhiger um die Gruppe. Die Rettung der Menschheit war offensichtlich nicht gelungen, die eigene Reputation dagegen immer miserabler geworden und die vielen verlorenen Prozesse waren finanziell ruinös. Buchholz-Kaiser zog sich in ihr Heimatdorf Dussnang zurück und der härteste Kern der Anhänger folgte ihr ins hinterthurgauische Tannzapfenland, wo sie zusammen giftfreies Gemüse anpflanzten und sich über die gesündeste Art der Hühnerzucht austauschten. 2002 löste sich der VPM rechtlich auf, und 2014 starb Buchholz-Kaiser. Die letzten Mohikaner der Menschenkenntnis geben noch die «Zeit-Fragen» heraus, eine verstaubt-reaktionäre Nischen-Postille und unterhalten Beziehungen zu anderen polit-intellektuellen Grenzgängern wie dem Verschwörungsenthusiasten Daniele Ganser. Aber die tragisch-komische Reise nach Utopia ist zu Ende. Der Versuch, das Böse in der Welt zu besiegen, ist gescheitert. Stattdessen ist man Opfer des Bösen im eigenen Kopf geworden.