Die Weltwoche / Eugen Sorg

16.12.2004

Hirschhorn-Ausstellung

Hochalarm im Kreativmilieu

Eine Million weniger Subventionen beschäftigt die Schweizer Kulturschaffenden stärker als der Mord am holländischen Filmer Theo van Gogh. Warum?

Kunstausstellungen oder gar Debatten über das Wesen von Kunst interessieren nur eine kleine Gemeinde von Kennern und Eingeweihten. Es muss als aussergewöhnliches Ereignis vermerkt werden, dass es die Schnarchfrage «Was darf Kunst?» innerhalb eines Monats gleich zweimal auf die Titelseiten der Medien geschafft hat.

Am 2. November dieses Jahres wurde der 47-jährige niederländische Cineast und Publizist Theo van Gogh in aller Öffentlichkeit mitten in Amsterdam von einem islamistischen Fanatiker mit einem Messer strafgeschlachtet. Diesem und einigen seiner Glaubensbrüder hatte ein Kurzfilm van Goghs über die Demütigung und Vergewaltigung einer Muslimin missfallen.

Einen Monat später stellte ein erboster Peter Bieri, CVP-Ständerat aus Zug, den Antrag, die aus Steuergeldern finanzierte Stiftung Pro Helvetia mit einer Budgetkürzung zu bestrafen. Er hatte in der Zeitung gelesen, dass der Schweizer Künstler Hirschhorn, ebenfalls 47-jährig, in seiner Pariser Ausstellung «Swiss-Swiss Democracy» auf ein Konterfei von Bundesrat Blocher pinkeln und in eine Wahlurne kotzen liess ? beides, so stellte sich später heraus, allerdings nur symbolisch ? und dass auf der Einladungskarte die Wappen der Schweizer Urkantone mit dem Foltergefängnis Abu Ghraib in Verbindung gebracht wurden. Die Ausstellung war von der Pro Helvetia mit 180000 Franken bezahlt worden. Skandalöse 180000 zu viel für Bieri und 23 weitere Ratsmitglieder, welche gegen 13 Gegenstimmen den Kürzungsantrag von einer Million unterstützten ? ebenfalls eine eher symbolische Sanktion bei einem bisherigen Pro-Helvetia-Budget von 34 Millionen Franken.

Es war bemerkenswert, wie hierzulande die erweiterte Kunstgemeinde auf die beiden Vorfälle reagierte. Der Fall van Gogh wurde nach anfänglichem Schweigen mit einer Mischung aus Grusel und Distanz kommentiert. Solidaritätserklärungen, Protestappelle, Unterschriftensammlungen für einen ermordeten Kollegen blieben aus. Symptomatisch war der Beitrag der NZZ am Sonntag. Fünf Tage nach dem Verbrechen brachte sie ein kleines Porträt von van Gogh. Man erfuhr darin, dass er ein Kampfraucher gewesen war, sich nachlässig kleidete, Islamisten bei jeder Gelegenheit als Ziegenficker verspottete, ein notorischer Provokateur und zynischer Clown war, und es fiel auf, dass der Bericht den mehrfach preisgekrönten Künstler kein einziges Mal mit dem Adelsprädikat Künstler bezeichnete. Van Gogh, so der Subtext, war letztlich selber schuld am eigenen Tod. Kein Wort über die islamistischen Hintergründe des Ritualmordes, über die neue Bedrohung der Meinungsfreiheit durch muslimische Eiferer, über die Rückkehr der religiösen Lynchjustiz im aufgeklärten Europa.

Ganz anders die Reaktionen auf die Causa Hirschhorn. Nun plötzlich beschwor das Feuilleton den Untergang der freien westlichen Zivilisation. «Nur in einem totalitären Staat bestimmt die Politik über erlaubte und unerlaubte Kunst», dröhnte es bald unheilvoll von einem ganzseitigen, von 200 tiefbesorgten Kulturschaffenden unterzeichneten Zeitungsinserat. «Die Demokratie schlägt zurück. Sie wird autoritär», so die politische Hammerdiagnose einer ansonsten feinsphärischen Kunstkritikerin des Tages-Anzeigers. «Politik darf die Freiheit der Kunst nicht ärger beschneiden, als es die Märkte eh schon tun. Sonst geben wir die Grunderrungenschaften der Moderne auf», warnte ein Theaterkritiker derselben Zeitung in einer Anwandlung von marxistischer Neoromantik. Denn, sekundierte die NZZ am Sonntag: «Kunst darf alles, Kunst versprengt verkrustetes Denken, Kunst ist progressiv.»

Am anschaulichsten illustrierte der Publizist Roger de Weck die Mehrheitsposition der Kulturkaste. Zu Theo van Gogh wollte ihm in seiner Sonntagszeitung-Kolumne partout nichts einfallen. Stattdessen erging er sich nach dessen Ermordung in historischen Meditationen: «[…] der Islam bildet einen (oft streitbaren, oft friedfertigen) Teil der europäischen Geschichte, der europäischen Gesellschaft und der europäischen Nachbarschaft». Umso dezidierter fiel sein Urteil zu Hirschhorn aus. Er forderte den Ständerat nicht nur eindringlich auf, das Budget von Pro Helvetia zu erhöhen, sondern sich auf die Schau des Künstlers einzulassen. Die Gesellschaft sei auf die Künstlerinnen und Künstler angewiesen. «Kunst», so de Wecks lyrisch durchzitterte Schlussfolgerung, «Kunst birgt Ahnungen und Mahnungen.»

Die Aufwallung der Kulturretter wirkte seltsam unecht, überkandidelt, operettenhaft.

Während sich der Niederländer mit seinem künstlerischen Engagement in eine offensichtliche Todeszone vorgewagt hatte, war das Wirken der hiesigen Kreativen nie eine Sekunde in Frage gestellt. Keiner wollte ihnen das Wort verbieten, niemand wollte ihnen den Pinsel führen. Lediglich ein paar brave Ständeräte fühlten sich durch die Flegeleien eines Politwirrkopfs beleidigt und versetzten der Kulturstiftung, welche solches Tun mit Steuerfranken ermöglicht hatte, trotzig einen finanziellen Nasenstüber. Was also ist der Grund für die verbale Überhitzung?

Seit einiger Zeit herrscht Hochalarm in den sensiblen Kreativmilieus. Viele der 200 Unterzeichner des erwähnten Hirschhorninserats, genauso wie viele der sogenannten Kunstschaffenden im Allgemeinen wurden oder werden vom Staat unterhalten durch Subventionen, Stipendien und Werkbeiträge. Und alle wissen: Die fetten Jahre sind vorbei, der Apparat muss sparen. Die Benefizianten versuchen, die behördlichen Rechnungsprüfer von ihrem Terrain zu verbannen, indem sie die drohende Verknappung der Zuwendungen zur gesellschaftlichen Schicksalsfrage hochstilisieren. Die Affäre Hirschhorn sei im Grunde eine weitere Episode im ewigen Kampf zwischen Herrschaft und Freiheit, zwischen Staat und Kultur, zwischen Konservativismus und Fortschritt. «Die Kunst», so heisst es in einem Protestcommuniqué des (subventionierten) Luzerner Theaters hymnisch, «ist eine Tochter der Freiheit.»

Doch so viel Weihe verklärt nicht nur den ängstlichen Blick aufs eigene Portemonnaie, sondern auch denjenigen auf die Rolle der eigenen Branche. Kunst ist nicht per se subversiv, machtkritisch, emanzipatorisch oder was auch immer. Sie ist ein Kommunikationscode der jeweiligen Epoche. Während Jahrtausenden feierten sie ihre jeweiligen imperialen und göttlichen Auftraggeber und deren Kriege mit grandiosen Werken. Auch in der jüngsten Vergangenheit waren einige grosse Künstler wie Knut Hamsun, Ezra Pound, Leni Riefenstahl Anhänger totalitärer Politführer, ohne dass ihre Kreativität Schaden genommen hätte. Geschichtlich neuesten Datums ist die Situation, dass der Künstler seine Werke auf dem Markt verkaufen muss. Nach der Französischen Revolution waren Adel und Kirche als wichtigste Auftraggeber bankrott, und das siegreiche Bürgertum verlangte nach anderen Bildmotiven beispielsweise als nur würdevollen Porträts oder Mariendarstellungen. Der freie Markt setzte eine sich beschleunigende kreative Kettenreaktion frei. Der ökonomische Kampf um Aufmerksamkeit trieb die Künstler zu laufend neuen Experimenten, formalen Tollkühnheiten, ästhetischen Grenzüberschreitungen. Provokation und Tabubruch wurden spätestens seit Marcel Duchamps Ausstellung eines Porzellan-Pissoirs (1917) zentraler Bestandteil des Vermarktungssystems, und ein gelungener Skandal gefährdete mitnichten die Grundlagen der sozialen Moral, sondern erhöhte den Handelswert des Kunstexponats.

Ständerat Bieri, offenbar unvertraut mit den Gesetzmässigkeiten eines abgebrühten Ästhetikbetriebs, verhalf der epigonalen Inszenierung Hirschhorns doch noch zu einem Skandälchen. Während der Theaterdonner bald wieder verstummen wird, bleibt die Frage nach dem Verhältnis von Staat und Kunst bestehen. In einer Demokratie muss der Staat die Freiheit der Kunst schützen. Bedeutet dies auch, dass er Künstler subventionieren muss? Die grossen Werke der Moderne entstanden ohne Fördergelder. Sicher ist aber, dass in diesen Tagen Fanatiker wie der Mörder van Goghs eine grössere Gefahr für den Künstler darstellen als das Kürzen von Staatsstipendien.

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