«Die Weltwoche»
16.07.2015
Der Seher von Thun
Der 44-jährige Schriftsteller Lukas Bärfuss gehört zu den erklärten Lieblingen der gebildeten Stände. Spannender als seine Moralpauken ist sein Werdegang. Der Emporkömmling entlarvt den Dichterkult, den er und seine Feuilleton-Jubler seit Jahren veranstalten.
Von Eugen Sorg
Es waren Szenen wie aus einem Theaterstück von Lukas Bärfuss. Das Drama hiess «Tod im Mittelmeer – Was kümmern uns die Flüchtlinge?». Aufgeführt wurde es in der «Arena» des Schweizer Fernsehens, die Figuren erinnerten wie bei Bärfuss mehr an sprechende Thesen als an menschliche Akteure, und auch der Ablauf schien einer präzis kalkulierten Dramaturgie zu folgen.
Die Hauptrolle spielte der Autor persönlich: einen Dichter mit dunklem, lose um den Hals gelegtem Schal, dunkler, eleganter Kleidung und düster-leidendem Gesicht. Seinen Gegenpart gab der Politiker Hans Fehr, Mann mit Schnauz und ehemaliger Realschullehrer aus Eglisau, ein bodenständiger Parteisoldat der Schweizerischen Volkspartei. In den Nebenrollen: eine plappernde bürgerliche Politikerin, ein schwadronierender grüner Politiker, ein dozierender Experte, ein ehemaliger Bootsflüchtling, der schneidige Moderator. Das Publikum im Hintergrund lieferte das Bühnenbild.
Bärfuss (feierlich): «Für mich sind die Bootsflüchtlinge Helden. Sie stehen für ein Ideal ein, das ich teile, nämlich, dass man sich mit seinem Schicksal nicht einfach abfindet. Noch mehr Menschen retten finde ich gut. Und eine Willkommensmentalität finde ich etwas Schönes.»
Fehr (beflissen): «Das sind keine Helden. Das sind vor allem junge Männer ohne Perspektive, namentlich aus Schwarzafrika oder dem Mittleren Osten. Sie müssen zurückgeführt, die Kähne allenfalls verbrannt und die riesige Schlepperindustrie ausgetrocknet werden.»
In der Runde entspinnt sich eine Diskussion über die Zahl der Flüchtlinge, die in der Schweiz Aufnahme finden sollten, über echte Flüchtlinge und Wirtschaftsmigranten. Dichter Bärfuss schweigt, scheint in sich zu versinken, rollt indigniert die Augen, bis er schliesslich, aufgefordert vom Moderator, in die Auseinandersetzung eingreift.
«Max Frisch unserer Tage»
Bärfuss (genervt): «Ich staune, ich kann nichts mehr sagen. Da sterben alle diese Menschen, und es wird schon wieder ein Kuhhandel betrieben: Sollen wir 30 000 oder 50 000 oder 100 000 Menschen aufnehmen. Doch das chronische Problem bleibt. Ich bin es langsam müde.»
Moderator: «Was ist das chronische Problem?»
Bärfuss: «Die ungerechte Weltordnung. Dagegen müsste man etwas tun. Wir profitieren direkt davon, dass es den Leuten dort unten schlechtgeht. Aber solange es nur darum geht, wie vielen, wo und wann wir helfen wollen, finde ich diese Diskussion ä chli gruusig.»
Der 44-jährige Schriftsteller mit dem breiten Berner Dialekt gehört seit einigen Jahren zu den erklärten Lieblingen der hiesigen gebildeten Stände. Seine Theaterstücke werden weltweit — von Santiago de Chile über Madrid, Paris, Berlin, Bukarest bis Tokio — aufgeführt, seine Prosa wird in alle Weltsprachen übersetzt, er wird mit Preisen buchstäblich überhäuft und er ist begehrt als Literaturdozent, Akademiemitglied, Talkshow-Gast. Das Feuilleton ist sich einig, dass er das Politische wieder in die Literatur zurückgeholt hat, «nicht als verschämte Nebenangelegenheit», wie der Tages-Anzeiger stellvertretend für den Rest schwärmt, «sondern als Zentrum». Bärfuss sei eine der «schärfsten und kritischsten Stimmen des Landes», lobhudelt es von allen Seiten, «unbequem», «kantig», ein «Warner und Mahner», einer, der «harte Antworten auf die grossen Fragen» gibt, ja der «Max Frisch unserer Tage».
Wenn jedoch ein zeitgenössischer Autor von sämtlichen etablierten Kulturinstanzen, staatlichen und privaten, für seinen «politischen Mut» und seine «Einmischung in die gesellschaftlichen Diskurse» gefeiert wird, kann es mit seiner Dissidenz nicht weit her sein. Tatsächlich bestätigt Bärfuss in seinen politischen Auslassungen im Wesentlichen die Vorlieben und Abneigungen der linksliberalen Meinungshegemonen in Kultur und Medien, die ihn dafür beklatschen. Wie sie verabscheut auch er die sogenannt freie Marktwirtschaft und die Ungleichheiten, die jene produzieren soll, und wie sie hat er ein schlechtes Gewissen, weil er glänzend darin lebt; wie sie schätzt er fremde Kulturen und andersartige Denkweisen, ausser bei den eigenen Landsleuten, die er im betreffenden Fall als dumpfe Hinterwäldler verachtet; und wie sie wünscht er sich die politische Verschmelzung mit einem europäischen Überstaat herbei, die nationale Selbstauflösung als Gebot einer wahrhaft humanistischen Gesinnung verklärend. «Die Bestimmung des Menschen ist es, eines Tages den Nationalstaat zu überwinden» (Die Presse, 1. 6. 2015).
Ablassgeschäft für das Gewissen
Er ist Angehöriger der Elite, nur etwas radikaler als diese, was ihm als Schriftsteller aber zugestanden, gar als seine Aufgabe bezeichnet wird. Wie früher der Pfarrer in der Kirche seine saumseligen Schäfchen, so geisselt heute Dichter Bärfuss regelmässig seine säkulare Lesegemeinde für ihre moralischen Sünden, für ihre fehlende Solidarität mit den Menschen des Südens, die angeblich durch unsere Schuld in Armut leben, für die Tatsache, schweizerisch, reich und gebildet zu sein und sich an diesem Glück auch noch zu freuen. «In der Zeit, die Sie jetzt gerade mit Lesen vergeuden», predigt er gnadenlos, «nimmt das Elend in der Welt zu, während Sie nicht das Geringste dagegen tun und sich an der Gespreiztheit der Sätze delektieren» («Stil und Moral», Göttingen, S. 225).
Die Getadelten zucken kurz zusammen, als hätte man sie bei der illegalen Beschäftigung einer asylsuchenden Putzfrau erwischt. Aber indem sie den «politisch scharf denkenden Zeitgenossen» mit Liebe und Laudatio eindecken, beweisen sie ihre Toleranz, ihre intellektuelle Aufgeklärtheit und ihre Weltoffenheit. Ein Ablassgeschäft, das ihr Gewissen besänftigt und sie am Glanz teilhaben lässt, mit welchem sie ihren strengen Dichterfürsten selbst ausgestattet haben.
Spannender als Bärfuss’ vorhersehbaren politischen Einwürfe – mehr Moralpauken als Analysen – ist sein persönlicher Werdegang. Es ist die erstaunliche Geschichte eines renitenten Schulversagers und gefährdeten jugendlichen Herumtreibers aus Thun, der mit zwanzig Jahren beschloss, fortan Schriftsteller zu sein, in einem aberwitzigen Entscheid, der aus ihm einen anderen machen sollte, als er war, und bei dem nichts dafür sprach, dass er dieser andere auch jemals werden könnte. Zwar las er ungewöhnlich viel, und obwohl er das meiste nicht verstand, machte die Lektüre den misstrauischen Eigenbrötler in seiner Welt «zu etwas Besonderem. Sie verlieh mir eine Identität, eine Bildung, die mich von den anderen unterschied und mir einen Wert gab, einerlei, für welchen Taugenichts und Tagedieb man mich halten mochte» («Stil und Moral», S. 18). Einer zu sein, dessen Name auf einem Buchdeckel steht, würde ihn retten. Aus seinem missglückten Start ins Leben, aus seiner Bedeutungslosigkeit, aus seiner Unbehaustheit. Aber wie sollte das gehen? Er hatte keinen Beruf, er kannte niemanden, und er merkte schnell, dass es unendlich schwierig war, selber Sätze zu schreiben, die so schön und klug waren wie diejenigen, die er in den Büchern las.
Nur zehn Jahre später wurde er als vielversprechender Autor gehandelt, und als er Mitte dreissig war, hatte seine Stimme im deutschsprachigen Literaturbetrieb Gewicht, und seine Werke wurden in allen wichtigen Blättern regelmässig besprochen. Er war angekommen. Er hatte sich selbst erschaffen nach seinem eigenen Bild. Dank Fleiss, Zähigkeit, Tollkühnheit. Als Aussenseiter, quasi durch den Dienstboteneingang, hatte er sich Zugang zum kulturellen Salon verschafft, zu einem snobistischen Milieu, das ein falsch ausgesprochenes Wort oder eine falsche geschmackliche Vorliebe stillschweigend mit Ausschluss bestraft. Bärfuss eignete sich dessen Code wie eine Fremdsprache an. Er hörte zu, imitierte, war auf der Hut, nicht enttarnt zu werden, beobachtete genau die Reaktion auf seine Sprechversuche.
Destruktions-Furor
Mit Kollegen hatte er die Künstlergruppe 400asa gegründet. Man produzierte Hörspiele und Theaterstücke, Bärfuss war Autor. Vor allem das Theater war eine ergiebige Schule. Dort konnte er ein Gefühl für die Wirkung von Worten, Sätzen und Pointen entwickeln. Anders als bei einem Buch, gab ihm das Auditorium unmittelbar und direkt Antwort darauf, ob und wie seine Botschaft ankam. Er wurde vertraut mit den Empfindlichkeiten und Wünschen seines Publikums, und er lernte gleichzeitig, seine Impulse und Reflexe zu kontrollieren, sie in Sprache und inszeniertes Handeln umzuwandeln.
Im Underdog aus einer schäbigen Thuner Agglo-Siedlung hatten sich Aversionen angesammelt, Aversionen gegen die anderen, gegen sich selbst, gegen die Ordnung, gegen die feine Gesellschaft. «Wir waren halbe Preise», schreibt er über seine Jugend, «unsere Eltern waren Säufer oder minderbemittelt, manchmal beides zusammen. Wir waren jung und hatten Pickel und schämten uns für alles, was wir waren und was aus uns werden sollte. Was wir erreichen konnten, war eine lausige Arbeit zu einem lausigen Lohn, in einer miefigen Kleinstadt» («Stil und Moral», S. 149). Die Theaterproduktionen gaben ihm die Möglichkeit, seine Wut auszuleben, ohne im Gefängnis zu landen. Die Truppe von 400asa experimentierte wild mit verschiedenen Theaterformen, zertrümmerte die Grenzen zwischen Musik, Tanz, Literatur und Schauspiel, trampelte lustvoll Konventionen nieder, getrieben von der Passion, zu provozieren und zu negieren.
Ressentiments lieferten auch den Betriebsstoff für sein Stück «Meienbergs Tod. Eine Groteske», das 2001 im Theater Basel aufgeführt wurde und ihm zum Durchbruch als Dramatiker verhalf. Der verstorbene Journalistengott der Linken wird als abgewirtschafteter Brachialerotiker vorgeführt, der im entscheidenden Moment impotent wird. Und mit dem gleichen Destruktions-Furor attackiert er die Kulturkaste: Literaturkommission, Zeitungsredaktion, Schriftsteller.
Vom Wilden zum Grossautor
Ein Jahr danach durfte die Theatergruppe die offizielle Bundesfeier der schweizerischen Landesausstellung Expo 02 ausrichten. Sie spielte Bärfuss’ Stück «August 02». Es ist eine einzige Schweiz-Beschimpfung. Ein Professor verwandelt Schweizer in Bonobo-Affen, und die in Affenkostümen agierenden Schauspieler kopulieren, hampeln herum und singen am Schluss den Schweizer Psalm. Im Vorfeld hatten die Theatermacher dazu aufgerufen, den Schweizer Pass zu verbrennen und den 1. August abzuschaffen, und man setzte den Vorgang, Schweizer zu werden, mit dem Erwerb einer Hundemarke gleich. Doch das mit Vorfreude auf den Aufschrei der verhöhnten Nationalseele verfasste Spiel erreichte für einmal sein Ziel nicht. Der Skandal blieb aus. Die meisten Zeitungen gähnten laut: «Eine langwierige Inszenierung rund um debile Affen» (Le Nouvelliste), «biedere Provokation» (Neue Luzerner Zeitung), «Mehr Klamauk als Ironie» (Tages-Anzeiger).
Das «Affentheater» wurde nur einmal aufgeführt, und Bärfuss, der sich von der Gruppe 400asa trennte, verzichtete fortan auf den Berserkerstil. Mit dem zunehmenden Erfolg wurde seine Arbeit präziser, formal strenger, er rannte nicht mehr aus Prinzip gegen ästhetische Übereinkünfte und stilistische Grenzen an. Seinen Wandel vom edlen Wilden zum gezähmten Grossautor schilderte er auf der Website Viceversaliteratur.ch. Volle Theater hätten ihn immer provoziert, erzählte er, weil er glaubte, die Menschen sollten mit ihrer Zeit etwas anderes anfangen als stumm dasitzend einem erfundenen Geschehen zu folgen. «Die Vertreibung der Menschen aus dem Theater ist mir allerdings nie gelungen», fuhr er fort und setzte mit kokettem Understatement hinzu, «das ist mein Drama, ich war als Dramatiker erfolgreicher, als ich es sein wollte. Es kamen immer mehr Menschen in meine Stücke, und eines Tages [. . .] habe ich mein Scheitern akzeptiert.»
Seine Ressentiments verschwanden damit nicht, aber er richtete sie nicht mehr wie in «Meienbergs Tod» gegen das Kulturestablishment. Er gehörte mittlerweile selber zu diesem. Seine Wut suchte sich neue Objekte, grössere, abstraktere: die allgemeine Verlogenheit, die Wirtschaftsordnung, die Welt als Ganzes. Und wieder und wieder gilt seine Verachtung der Schweiz und deren Liebhabern. Zwar wies er die Frage einer Journalistin: «Kritisieren Sie in den Stücken [«Meienbergs Tod» etc.] Ihr Heimatland?», weit von sich. Nur schon die Formulierung «Ihr Heimatland» schien ihm eine völlig unangemessene Unterstellung zu sein, als würde er mit etwas Obszönem in Verbindung gebracht. «Das interessiert mich nicht», behauptete er. Es fehlt mir auch die Vorstellung von «der Schweiz, von diesem Heimatland. Wer wäre das? Die Behörden? Die Menschen? Welche Menschen? Ich kenne keine Gesellschaft, ich kenne nur Individuen» (Viceversaliteratur.ch).
Das demonstrative Desinteresse verriet das Gegenteil. Bärfuss’ Ablehnung der Schweiz ist innig und trägt obsessive Züge. Er kommt von ihr nicht los. Er verspottet sie und verdammt sie und behauptet gelegentlich, obwohl er sich für seine Arbeit regelmässig staatliche Werkbeiträge auszahlen lässt, dass sie gar nicht mehr existiere: «Unser Staat ist faktisch aufgegangen in einem europäischen, in einem globalen Zusammenhang.» Und die von den allermeisten Bürgern selbstverständlich geteilte Auffassung, die Frankenwährung oder die direkte Demokratie oder das Initiativrecht beibehalten zu wollen, vergleicht er mit der pathologischen Illusion eines Schuhfetischisten («Stil und Moral», S. 149f).
Oder er entwickelt in einer kurzen Abhandlung die kuriose, aber nicht minder herablassende Vermutung, dass «Scham» der Grund sei, Scham über die eigene Kulturlosigkeit, dass die Schweiz nicht der EU beitreten wolle. «Niemand», fährt er fort, «interessiert sich für Schweizer Geschichte (am wenigsten wir selber), Schweizer Küche oder Schweizer Musik. Nein, dieses Land besucht man auch heute ausschliesslich der Natur wegen. Sie ist unsere wahre Kultur. Den Menschen aber, dessen Kultur die Natur ist, nennt man einen Wilden. Dessen schämen wir uns, wie sich jeder Knecht für das Bild schämt, das der Herr von ihm zeichnet. Und wie jeder Knecht fürchten wir, das Bild könnte die Wahrheit über uns enthalten» («Stil und Moral», S. 9).
Leblose Figuren
Lukas Bärfuss hat ein journalistisches Gespür für Themen, die in der Luft liegen, für aktuelle gesellschaftliche, politische, menschliche Fragen. Als einer der wenigen seines Berufsstandes bringt er sie auf die Bühne oder verarbeitet sie in literarischer Prosa. Trotz der Brisanz der Inhalte versprühen aber die meisten Werke die Kälte eines Labors. Die Figuren berühren einen kaum, sie entwickeln kein eigenes Leben. Sie agieren als reine Vehikel einer Idee, Träger einer Botschaft, Funktionen eines rigiden Konzepts.
«Das Grauen! Das Grauen!»
«Öl» zum Beispiel, ein ehrgeiziges Schauspiel über die Suche nach dem Rohstoff Erdöl, ist dramatische Neo-Agitprop. Glücksritter, getrieben von skrupelloser Gier, schänden in der fernen Taiga die Natur auf ihrer Jagd nach dem teuren Gut, schänden die Indigenen, hinterlassen Verwüstung und Ödnis. Es ist «Erklärung von Bern» in Dialogform, ein klaustrophobisches, antikapitalistisches Kammerspiel, das den Figuren ein vorhersehbares Schicksal beschert. Es sind Zyniker, Alkoholiker, sie verkaufen ihre Seele und werden von der eigenen Verderbtheit eingeholt: Sie enden im Wahnsinn. Keine Überraschung, kein Denkanstoss, nur wortmächtige Bestätigung dessen, was der Zeit-lesende Theatergänger schon vorher über die Rohstoffhändler zu wissen geglaubt hat.
Seine wahrscheinlich beste Arbeit, das Ruanda-Buch «Hundert Tage», ist sein erster Roman. Es ist die Geschichte des schweizerischen Entwicklungshelfers David Hohl, der sich weigert, Ruanda zu verlassen, als dort der Völkermord ausbricht, und der sich während der ganzen Zeit des Schlachtens in seinem Haus versteckt. Er überlebt, ist aber ein gebrochener Mann, als er wieder in die Schweiz zurückkehrt und sich in die Einsamkeit eines Juradorfes verkriecht.
Auch Hohl ist eine blutleere Figur, man erfährt zwar seine Erlebnisse in Afrika, aber als Individuum bleibt er blass und undeutlich. Hohl ist kein Mensch, er ist eine These. Seine Aufgabe im Roman ist es, Bärfuss’ Theorie von der Schuld der Schweiz am Genozid zu vertreten. Ruanda war lange Jahre Schwerpunktgebiet der schweizerischen Entwicklungszusammenarbeit. Ordnung, Zuverlässigkeit, Fleiss, diese helvetischen Kardinaltugenden, lässt er den Hilfswerkler also räsonieren — «unser Stolz» — hätten sie während dreissig Jahren ins «Herz des schwarzen Kontinents» getragen und gelehrige Schüler gefunden. Doch sie hätten übersehen, «dass jeder Völkermord nur in einem geregelten Staatswesen möglich ist», denn nichts «liebt das Böse mehr als den korrekten Vollzug einer Massnahme, und darin, das muss man doch zugeben, gehören wir zu den Weltmeistern».
Hohl ist eine bernische Variante der Figur Kurtz aus der Erzählung «Herz der Finsternis» von Joseph Conrad. Beide, der rassistische Kolonialist und der menschenfreundliche Helfer aus der Schweiz, blicken im Innern Afrikas in das Herz des Bösen. Kurtz – «Das Grauen! Das Grauen!» – verfällt dem Wahn und stirbt. Hohl erkennt sein eigenes Antlitz, wird depressiv und ertrinkt in Selbstanklagen.
«Hundert Tage», unentschieden schwankend zwischen Roman und Essay, bleibt eine spannende Lektüre. Der gelungene Plot und die unfassbaren Realgeschehnisse als bedrohlicher Hintergrund tragen die Erzählung über die knöchern klappernden Figuren und die grössenwahnsinnige Zentralthese von der Schweiz als Genozidtreiberin hinweg. Es ist jedoch bezeichnend für den intellektuellen Zustand des Feuilletons, dass es just die den Text durchdringende Schuldunterstellung als «kluge» und «differenzierte» politische Analyse feierte. «Eine gelungene Antwort» auf die Frage nach dem «Schuldanteil der Schweiz am Völkermord», vermeldete aus Deutschland die Frankfurter Rundschau. Ruandas Genozid «in Wahrheit ein schrecklicher Triumph von Schweizer Ordnung und Rechtschaffenheit», echote der Tages-Anzeiger.
Sein jüngster Roman «Koala» handelt vom Selbstmord. Der Bruder des Ich-Erzählers hat sich umgebracht, und dieser begibt sich auf Spurensuche, um herauszufinden, wer der Verstorbene wirklich gewesen war und warum er sich getötet hatte. Der Roman hat einen direkten autobiografischen Bezug. Auch Bärfuss’ Bruder hatte Suizid begangen, und wie die Akteure im Buch hatte auch er seit langem keinen Kontakt mehr zu diesem gehabt und sich von ihm entfremdet. Der Ich-Erzähler befragt Freunde, stöbert in den wenigen Hinterlassenschaften, konsultiert Fachliteratur, liest sich durch die Kulturgeschichte des Selbstmordes, findet aber keine Antwort. «Der Selbstmord sprach für sich», bilanziert der ratlose Protagonist, «er brauchte keinen Erzähler.»
An dieser Stelle hätte der Roman aufhören können, doch Bärfuss hebt unvermittelt zu einer komplett neuen Geschichte an. Der Pfadfindername des Verstorbenen war Koala, und dies nimmt der Autor zum Anlass, um über das faule, Eukalyptus kauende Pelztier zu dozieren. «Nomen est omen», so die Devise, und als eigentliches Totemtier würde dessen Lebensart Auskunft über das Wesen des Bruders liefern. Und dann schweift er noch weiter aus. Ausgehend vom amerikanischen Unabhängigkeitskrieg, kommt die Erzählung auf die Eroberung Australiens durch die britische Krone und landet später wieder beim putzigen Beuteltier, das im Landesinnern lebt und von den Ureinwohnern beinahe ausgerottet worden wäre. Erst auf den letzten Seiten ist wieder vom Suizid des Verstorbenen die Rede, was Bärfuss nutzt, um doch noch einen pauschalen gesellschaftskritischen Tiefsinn loszuwerden. «Das war, was man meinem Bruder und keinem Selbstmörder verzieh: Sie hatten endgültig und ohne Widerruf die Arbeit verweigert.»
Der Selbstmord des fremden Bruders
Das Buch zerfällt nicht nur inhaltlich, sondern auch stilistisch in zwei unzusammenhängende Texte. Während der längere, historische Teil flüssig und lebendig geschrieben ist, wirkt derjenige über den Verlust des Bruders gestelzt und angestrengt. Man merkt, da hat einer alles gelesen, was über Suizid geschrieben worden ist, aber man empfindet nichts dabei, keine Trauer, keine Verzweiflung, keine Wut. Anstatt an einer Reise ins Intimste der Existenz teilzunehmen, sitzt man in einer Vorlesung über Suizid in Vergangenheit und Gegenwart.
Das Scheitern des Ich-Erzählers, den Selbstmord des fremden Bruders zu verstehen, kann man als das Scheitern des Autors deuten, eine Figur zu schöpfen, die jenseits einer zerebralen Konzeption oder eines essenzialistischen Sendungsauftrags aus sich selber heraus plausibel handelt und fühlt. Kaum vorstellbar, dass der hochdisziplinierte Wortarbeiter Bärfuss die Inkohärenz und Unfertigkeit seines Buches nicht realisiert haben sollte. Es zeugt jedoch von einer scharlatanesken Kaltblütigkeit, wie er diese Schwächen zur poetischen Absicht erklärt. Die Frage einer Journalistin, was denn die «Kolonisationsgeschichte Australiens» mit dem «Selbstmord Ihres Bruders» zu tun habe, pariert er folgendermassen: «Das ist genau das, was ich in meiner Literatur suche: dass man einen Imaginationsraum betritt, in dem man Sachen gegenübersteht, die auf den ersten Blick nicht zusammenpassen. Diesen neuen Blick auf das Leben kann man in der Literatur erleben. Sonst sind wir ja gefangen im Definierten» (Aargauer Zeitung, 17. 12. 2014). Kaum ein Journalist würde sich nach einer solchen Belehrung noch getrauen, mit weiteren naheliegenden Fragen seinen verkümmerten «Imaginationsraum» und sein banausenhaftes Verharren im «Definierten» zu offenbaren.
Gefährliche Huldigungen
Bärfuss agiert mit der Verwegenheit des Aufsteigers, der sich in einem kleinen, aber verbissen umkämpften Marktsegment erfolgreich durchgesetzt hat. Er weiss instinktiv um die Wichtigkeit eines ganzheitlichen Marketings, weiss, dass es nicht genügt, einfach ein gutes Produkt herzustellen, um Abnehmer zu finden. Man muss es mit einer spezifischen Aura versehen, mit einer unverwechselbaren Identität. Eine Ware ohne Brand wird nicht wahrgenommen, und bei Kulturprodukten ist die Person des Herstellers ein integraler Teil der Corporate Identity. Das Image des Autors definiert das Verkaufsgut, bestimmt dessen ideellen Wert. Zu Bärfuss’ Erkennungsmerkmalen gehören dräuende Schwere, raunende Bedeutungstiefe, bildungshubernde Einschüchterung. Kein anderer Berufsschreiber redet in Interviews und Aufsätzen mit ähnlich hochgestochenem Vibrato über «den Dichter» als «zwischen den Verhältnissen» schwebende Existenz, als Märtyrer der «Wahrhaftigkeit, die hinter all diesen Trotzdems zu finden ist».
Einem blinden Seher gleich geht der Dichter, das heisst Lukas Bärfuss, seinen Weg, vertrauend allein auf seine Ahnungen, sein Unbewusstes, seine rätselhafte Kreativität. «Allerdings, und das ist seltsam», eröffnet er einem ehrfürchtig staunenden Interviewer, «im Grunde schreibe ich an einer grossen, langen Geschichte. Ihren Inhalt kenne ich nicht genau, aber ich habe das Gefühl, dass neben der Gesellschaft, die Sie erwähnen, auch die Liebe darin eine wichtige Rolle spielt. Aber letztlich muss es um die Erforschung der Empfindung gehen, um das Studium der Vorstellungswelten. Das vielleicht, weil ich staune über die Menschen» (Der Sonntag, Nr. 28/14).
Wie bewusst der Selfmademan sein Branding betreibt, zeigen auch seine sorgsam inszenierten Porträtaufnahmen. Meistens schaut er ernst bis grimmig, misstrauisch oder in sich gekehrt oder lauernd, ein melancholischer Dichter-schläger, ein poète maudit, ein literarischer Türsteher am Eingang zur Hölle. Jede Pose will sagen, hier denkt ein Denker nach über das Unheil in der Welt, einer, der viel gesehen hat und nun darüber sinniert, wie er all dies den Ahnungslosen verkünden soll.
Die Gefahr für einen wie Bärfuss besteht darin, dass ihm ob der permanenten Huldigungen und schwärmerischen Lobpreisungen die Fähigkeit abhandenkommt, zu unterscheiden zwischen seiner Rolle und seiner Person. Er könnte beginnen, zu glauben, dass er tatsächlich jene Figur ist, die er spielt und als die ihn seine Bewunderer lieben. Damit würde ihm aber die Souveränität über seine Produktion entgleiten, er verlöre das Gefühl für die richtige Tonalität, für das stilistische Tuning. Und genau dies scheint Bärfuss in letzter Zeit passiert zu sein. Beispielsweise in einem kurzen Beitrag, den er zum Jahreswechsel für die NZZ verfasst hat.
Unter dem hochtrabenden Titel «Die Aufgabe meiner Generation» blickt der Schriftsteller auf das vergangene Jahr zurück und zieht Bilanz. Die Sprache ist voll von ältelndem Pathos und schief dröhnender Feierlichkeit. «Alle Tage hatten wir zu essen», teilt uns der Dichter mit, «im Schrank lag stets die passende Kleidung», und die «Freunde» hätten die meiste Zeit einen «guten Lebtag» gehabt; nicht immer sei «Wachs» bereitgelegen zum «Verschliessen der Ohrmuscheln» und so seien die «Stimmen der Verzweifelten in unsere Traulichkeit» gedrungen; doch «das Land steht stolz, beinahe steif davon, und man sähe es ganz gewiss gerne wieder einmal demütig, einer Sache verschrieben, deren Verwirklichung einer Anstrengung bedarf, die nicht in einer Lebenszeit vollendet werden kann.»
Zum Abschluss hebt Bärfuss den Ton noch einmal an und bläst ihn auf ins Hymnische, Olympische, Endzeitliche. Die «Melancholie», verkündet er, sei «zum allgemeinen Anstrich geworden und «nicht nur einzelne Stimmen, sondern ganze Chöre» würden «in den Abgesang auf unsere Kultur einstimmen», und da sich «niemand mehr seines Trübsinns schämt», bleibt es «die Aufgabe meiner Generation, die Fröhlichkeit in die Strassen zu tragen, jetzt und an jedem Tag des kommenden Jahres».
Man weiss nicht, was komischer ist: der prophetisch wabernde Artikel als ganzer oder das Bild der ominösen «Chöre» oder die Vorstellung, wie der grimmig dreinschauende Autor «die Fröhlichkeit in die Strassen» tragen will, «jetzt und an jedem Tag des kommenden Jahres». Gewiss ist lediglich, dass sich hier ein Autor unendlich wichtig nimmt. Ein «Warner und Mahner», der plötzlich meint, ein Seher zu sein, sich in seine eigene Karikatur verwandelt und eine unfreiwillig entlarvende Parodie jenes Dichterkults liefert, den er und seine Feuilleton-Jubler seit Jahren veranstalten.